1Da ergriff Hiob wieder das Wort: 2»Ja, ich weiß, dass es so ist. Doch wie kann ein Mensch in Gottes Augen schuldlos sein? (Hi 4,17; Hi 25,4)3Wenn es jemand darauf anlegte, mit Gott zu streiten, so könnte er ihm von tausend Fragen nicht eine einzige beantworten.4Denn Gott weiß alles und ist allmächtig. Wer war jemals so klug und so stark, dass er Gott die Stirn geboten hätte und mit heiler Haut davongekommen wäre?5In seinem Zorn lässt er Berge ohne ersichtlichen Grund einstürzen (Hi 26,6)6und erschüttert die Erde bis in ihr Fundament. (Jes 2,19; Jes 13,13; Hag 2,6; Hebr 12,26)7Wenn er es anordnet, geht die Sonne nicht auf und die Sterne scheinen nicht. (Jes 13,10)8Er allein hat den Himmel gespannt, er schreitet über die Wellen des Meeres hinweg. (1Mo 1,1; Ps 77,20; Ps 104,2; Jes 40,22)9Er hat die Sterne geschaffen – den Bären, den Orion, die Plejaden und das Kreuz des Südens.10Seine Werke sind zu wunderbar, als dass ein Mensch sie begreifen könnte. Er vollbringt unzählige Wunder.11Und doch – wenn er sich mir nähert, kann ich ihn nicht sehen, wenn er an mir vorbeigeht, erkenne ich ihn nicht, und wenn er sich entfernt, merke ich es nicht. (Hi 23,8)12Wenn er etwas wegnimmt – wer könnte ihn aufhalten? Wer wagt es, ihn zu fragen: ›Was tust du da?‹ (Hi 10,7; Hi 11,10; Jes 45,9)13Und Gott hält seinen Zorn nicht zurück. Selbst die stärksten feindlichen Kräfte[1] müssen sich ihm unterwerfen. (Hi 26,12; Ps 89,11)14Wer also bin ich, dass ich Gott zur Rede stellen dürfte und ihm gegenüber die richtigen Worte finden könnte?15Selbst wenn ich unschuldig wäre, könnte ich mich nicht verteidigen; mir bliebe nur, ihn als meinen Richter um Gnade anzuflehen. (Hi 8,5; Hi 10,15)16Und auch wenn ich ihn anklagte und er mir antwortete, könnte ich doch nicht glauben, dass er mich wirklich anhört.17Wie ein Orkan würde er mich niederwerfen und mir ohne Grund noch mehr Wunden zufügen. (Hi 16,12)18Er würde mir keine Zeit lassen Atem zu holen, sondern würde mich mit Bitterkeit und Leid sättigen. (Hi 27,2)19Wollte ich sehen, wer der Stärkere ist, würde er sagen: ›Hier bin ich!‹ Und wollte ich ihn vor Gericht bringen, würde er mich fragen: ›Wer will mich vorladen?‹20Auch wenn ich im Recht wäre, müsste ich mich selbst schuldig sprechen. Und auch wenn ich unschuldig wäre, würde ich vor ihm als Schuldiger dastehen. (Hi 9,15)21Ich bin schuldlos, aber das ändert nichts – das Leben bedeutet mir nichts mehr.22Es läuft doch alles aufs Gleiche hinaus, deshalb sage ich: Er vernichtet die Schuldlosen ebenso wie die Schlechten. (Pred 9,2)23Er lacht über die Angst der Unschuldigen, die plötzlich von einer tödlichen Plage heimgesucht werden.24Fällt ein Land in die Hände eines Gottlosen, dann macht er die Augen der Richter blind für das Recht. Wer könnte das tun, wenn nicht er? (Hi 12,6; Hi 16,11)25Schnell wie ein Läufer eilt mein Leben dem Ende zu. Es vergeht wie im Flug, und mir steht nichts Gutes mehr bevor. (Hi 7,6)26Mein Leben schießt vorbei wie ein schnelles Boot, wie ein Adler, der auf seine Beute herabstößt. (Hab 1,8)27Selbst wenn ich mir sagte: ›Ich will meine Trauermiene ablegen und ein fröhliches Gesicht zeigen‹,28hätte ich doch Angst vor weiteren Schmerzen. Denn ich weiß, dass du, Gott, mich nicht freisprechen wirst. (Hi 3,25; Hi 7,21; Hi 10,14)29Ich werde auf jeden Fall für schuldig befunden. Wozu soll ich mich also noch anstrengen, wenn ohnehin alles ins Leere läuft? (Ps 37,33)30Wenn ich mich mit Schnee wüsche und meine Hände mit Lauge reinigte, (Hi 31,7; Jer 2,22)31würdest du mich in ein Schlammloch werfen, und ich wäre so schmutzig, dass meine eigenen Kleider sich vor mir ekelten.32Gott ist kein Sterblicher wie ich, deshalb kann ich nicht mit ihm streiten und darf ihn nicht zur Rechenschaft ziehen. (1Sam 2,25; Röm 9,20)33O gäbe es doch einen Schiedsrichter, der zwischen uns vermitteln könnte! (1Sam 2,25)34Ich wollte, Gott würde mich nicht mehr mit Schicksalsschlägen verfolgen, denn ich möchte mich nicht ständig vor weiteren Katastrophen fürchten müssen. (Ps 39,11)35Dann könnte ich ohne Angst zu ihm sprechen, doch das ist mir jetzt nicht möglich.
Hiobs dritte Rede: Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott?
1Da gab ihm Hiob zur Antwort:2„Gewiss, ich weiß, dass es so ist! / Wie könnte ein Mensch im Recht sein vor Gott?3Hätte er Lust, sich mit ihm zu streiten, / könnte er ihm auf tausend nicht eines erwidern.4Er hat ein weises Herz und große Kraft. / Wer trotzte ihm und bliebe unversehrt?5Er ist es, der plötzlich Berge versetzt, / der sie umstürzt in seinem Zorn.6Die Erde schüttelt er von ihrem Ort auf, / sodass ihre Säulen erzittern.7Er spricht zur Sonne, dann strahlt sie nicht auf, / er kann sogar die Sterne versiegeln.8Er allein spannt den Himmel aus / und schreitet auf den Wogen des Meeres.9Er hat den großen Bären gemacht, / den Orion und das Siebengestirn / und alle Sterne des Südens.10Er schafft Gewaltiges, das nicht erforscht werden kann, / tut Wunder, die nicht mehr zu zählen sind.“
Wer will Gott an etwas hindern?
11„Geht er an mir vorbei, ich sehe ihn nicht, / zieht er vorüber, ich bemerke ihn nicht.12Reißt er weg, wer hält ihn zurück? / Wer darf ihm sagen: 'Was machst du da?'13Gott hält seinen Zorn nicht zurück, / unter ihm haben sich Rahabs[1] Helfer geduckt.14Wie könnte ich ihm Rede und Antwort stehen, / wie die richtigen Worte wählen vor ihm?15Und wäre ich im Recht, ich könnte ihm nichts entgegnen. / Anflehen müsste ich ihn, der mein Richter ist.16Würde ich ihn rufen, und er gäbe mir Antwort, / ich könnte nicht glauben, dass er auf mich hört!17Er, der mich im Sturm zermalmt, / meine Wunden grundlos vermehrt.18Er erlaubt mir nicht, Atem zu schöpfen, / sondern füllt mich mit bitterem Leid.19Fragst du nach Stärke: Schau da! / Und nach Recht: Wer lädt mich denn vor?20Wäre ich auch im Recht, mein Mund würde mich verdammen; / wäre ich vollkommen, er beugte mich doch.21Ich bin schuldlos! / Ich kenne mich selbst nicht mehr, / und ich verachte mein Leben.22Es ist alles einerlei. Darum sage ich: / 'Er bringt den Schuldlosen genauso wie den Schuldigen um!23Wenn die Geißel plötzlich tötet, / verhöhnt er die Verzweiflung Unschuldiger.24Er hat die Erde einem Schurken gegeben und alle Richter blind gemacht. / Wenn nicht er es gewesen ist, wer dann?'“
Es gibt keinen Schlichter zwischen uns
25„Schneller als Läufer jagen meine Tage davon, / sie fliehen und sehen kein Glück.26Wie Schilfrohrboote gleiten sie vorbei, / wie der Sturz eines Adlers auf seine Beute.27Wenn ich denke: 'Ich will meine Klage vergessen, / ich blicke heiter, mach ein anderes Gesicht',28dann graut mir vor meinen Schmerzen. / Ich weiß, du sprichst mich nicht frei.29Ich soll eben schuldig sein. / Was mühe ich mich umsonst?30Würde ich mich mit Schneewasser waschen, / meine Hände mit Lauge säubern,31dann würdest du mich in die Grube tauchen, / dass selbst meine Gewänder sich ekeln vor mir.32Denn er ist nicht ein Mensch wie ich, / dass ich ihm antworten könnte / und wir gingen miteinander vor Gericht.33Kein Schlichter vermittelt zwischen uns / und legt seine Hand auf uns beide.34Er nehme seine Rute von mir weg, / sein Schrecken soll mich nicht mehr ängstigen.35Dann kann ich reden und muss ihn nicht fürchten, / dann hätte ich dazu keinen Grund.“